Die folgende Anekdote erzählte ich schon oft im Rahmen von Seminaren & Workshops, wenn es um den empowernden Umgang mit Diskriminierungserfahrungen geht. Gerade im sensiblen Bereich der Arbeitssuche macht mir das Selbsterlebte heute so viel mehr Mut im Vergleich zu den vielen Momenten der Ohnmacht, die danach folgten.
Aus Krisen Großartiges für sich selbst zu schaffen, ist die beste Heilung für die entstandenen Wunden.
Frau Obgarden, Geschäftsführerin und Pädagogin vom Träger SuMM schaut nachdenklich auf die vorliegende Initiativbewerbung. Kein Foto dabei. Aber das war auch nicht nötig. Ihre langjährige Mitarbeiterin berichtete ihr gerade schon das Wesentliche. „Sie trägt ein Kopftuch. Aber sie ist sehr interessiert und engagiert. Und ich kenne sonst niemanden, die Berufsanfängerin ist und genau diese Qualifikation aufweist. Was anderes können wir uns doch nicht leisten, oder?“
Da hatte sie Recht, sinnierte Frau Obgarden. Seit Jahren schon setzte Frau Obgarden sich gemeinsam mit zwei Mitarbeiterinnen dafür ein, endlich ein Projekt mit sozialraumorientierten Prinzipien über die Stadt finanziert zu bekommen. Nun hatten sie die Chance, als erster Träger der Stadt dieses Projekt durchführen zu können. Es haperte nur noch an passendem Personal. Eine Mitarbeiterin mit viel Erfahrung und dementsprechend mehr Kosten konnte durch das Projekt finanziert werden. Aber nicht zwei, dafür bräuchte es eine Berufsanfängerin. Trotzdem. Frau Obgarden zögerte. „Gibt es nicht noch andere, die in der Richtung qualifiziert sind? Das Kopftuch macht mir schon Kopfschmerzen.“ Ihre Mitarbeiterin schüttelte den Kopf und entgegnete: „Lade sie doch mal ein. Gib ihr eine Chance. Sie war hier in Hamburg aus eigenem Antrieb schon in verschiedenen Trägern, sie wirkt sehr engagiert.“
Frau Obgarden schaute noch einmal auf die Bewerbung. Das Sozialarbeitsstudium schloss die Bewerberin in zwei Jahren mit 1.3 ab. Beachtlich. Na gut, dachte sich Frau Obgarden. Ablehnen könnte ich dann immer noch.
Im Vorstellungsgespräch bestätigte sich für Frau Obgarden der positive Eindruck ihrer langjährigen Mitarbeiterin. Frau Roth war engagiert, einfühlsam und wirkte in ihrer Profession sehr standhaft. Doch sie musste noch etwas fragen. Etwas, wo sie nicht wusste, wie sie die Frage stellen sollte. Aber es ging nicht anders. Frau Roth sollte nicht nur im neuen Projekt, sondern auch in einem hochkomplexen Arbeitsbereich tätig werden, deren Klientel mit Sicherheit ein Problem mit ihrem Aussehen hatte: das Pflegekinderwesen. Und nicht nur von Pflegeeltern erwartete sie Missmut, wenn eine Kollegin aus dem Mitarbeiterstab ein Kopftuch trägt. Frau Obgarden hatte vor ein paar Tagen noch der ganzen Belegschaft die Bewerbung von Frau Roth vorgelegt und der Frage, ob sie eine Frau mit Kopftuch im Träger einstellen sollten. Fast 40% des Mitarbeiterstabs lehnten ab. Lieber nicht. Wer weiß, wie die Reaktionen sind.
So versuchte Frau Obgarden die Frage zu stellen, die sie in dem Moment eigentlich auch außerhalb des Arbeitskontextes interessierte: „Nun denn, Frau Roth, ich habe da noch eine Frage, ähm. Ich weiß nicht, wie ich sie stellen soll, also, aber ich muss sie fragen. Ja, wie frage ich das jetzt am besten. Also, ja. Warum tragen Sie ihre Religion nach außen?“ Frau Roth blieb fest in ihrer Gestik und Mimik und entgegnete, dass sie sich hier als Sozialpädagogin bewarb und nicht als Missionarin. Ihre bisherigen Antworten, sowie ihr ausgezeichneter Lebenslauf müsse schon ausreichen, um erkennen zu können, worum es Frau Roth im heutigen Vorstellungsgespräch ginge. Frau Obgarden war etwas überrumpelt von deren Antwort, damit hatte sie nicht gerechnet und spürte irgendwie, dass die Frage nicht angebracht war. Dabei wusste sie auch, dass die Frage sehr wichtig ist, auch für Arbeitskontexte. Aber die Antwort überzeugte sie.
Frau Obgarden verabschiedete sich von Frau Roth und begleitete sie zur Tür.
Wie habe ich das Erlebte verarbeitet?
Ich trat mit einem mulmigen Gefühl aus dem Bürogebäude. Dabei wusste ich anfangs gar nicht, warum ich mich so fühlte. Mein Mann wartete auf mich in nächstgelegenden Einkaufscenter. Als ich ihn sah - er lächelte mich an und fragte, wie es gelaufen ist - wurde es mir plötzlich klar. "Ich weiß nicht, Schatz. Das war irgendwie komisch. Die Geschäftsführerin hat eine Frage gestellt, die mich innerlich echt umhaute." Mein Mann fragte nach. Ich berichtete. "Warum fragt sie das? Das geht doch nicht. Weißt du, ich glaube, ich habe ganz gut reagiert. Sowas habe ich ja bisher noch nicht erlebt. Wenn ich an meine vorherige Arbeitsstelle denke und deren Bewerbungsgespräch, da fragte mich die Leitung lediglich, ob ich mit männlichen Jugendlichen ohne Probleme arbeiten könne. Das war okay. Das ist ja eine Frage, die man jedem stellen könnte. Das fühlte sich nicht komisch an. Aber `warum tragen Sie Ihre Religion nach außen´? Fragt sie das auch jemanden, der ein Kreuz um den Hals trägt? Ich glaube nicht..."
Irgendwie versuchte ich mich damit abzufinden. Zumindest fällt es so leichter die Hoffnung auf die Stelle aufzugeben. Das ist aber auch irgendwie der einzige Vorteil daran. Ca. drei Tage später kam die Zusage. Meine Qualifikationen haben wohl überwogen, die Zeit drängte, der Träger wollte das Pilotprojekt verwirklichen und so kam mir meine Nischenqualifikation zu Gute.
Die gefürchtete Pflegemutter
Das Vorstellungsgespräch war erst einmal vergessen. Ich freute mich sehr darüber, beim Pilotprojekt dabei sein dürfen und war auch sehr neugierig auf das Pflegekinderwesen. Die einzelfallorientierten Hilfen, in denen ich vorher tätig war, machten mich sehr unglücklich; alles fühlte sich nach "stupider" Arbeit und nicht wirklich nach sinnvoller und nachhaltiger Hilfe für die Zielgruppen an. Doch die Kombination des unbekannten Bereiches des Pflegekinderwesens und die Mitwirkung in einem ganz neuen, noch nie dagewesenen Projekt in der Hansestadt, bereiteten mir große Freude. So lernte ich nach ca. zwei Wochen die erste Pflegemutter kennen, für die ich - samt ihrer zwei Pflegetöchter - zukünftig zuständig sein sollte. Das damit verbundene Hilfeplangespräch mit dem Jugendamt machte deutlich, wie viel Wechsel die Pflegefamilie schon angesichts der hohen Fluktuation im Jugendamt und in der Vormundschaft hinter sich hatte. Ausgenommen war bisher die Pflegefamilienberaterin, deren Posten ich nun nach 10jähriger Betreuung übernehmen sollte. In ihrer Familie lebte ein Kind, dessen Vater aus dem subsaharischen Raum stammte und ein Kind, mit chilenischen Eltern. Ich war sehr zuversichtlich, dass die Zusammenarbeit gut funktionieren würde, das Gespräch verlief gut. Bis mir zwei Tage danach meine Kollegin eine Mail der Pflegemutter vorlas, die ungefähr so gefüllt war:
"Ich möchte nicht, dass meine Pflegetöchter von einer Frau mit Kopftuch betreut werden. Sie haben es eh schon so schwer und sie sollen selbstbestimmt groß werden können. Sie sollen selbst bestimmen können, was sie anziehen und keine Menschen um sich herum haben, die das Bild der unterdrückten Frau verkörpern. Bitte, ich möchte jemand anders."
Das war ein Schock. Eigentlich ist Schock noch untertrieben. Es hatte mich furchtbar aus der Bahn geworfen. Das Gespräch verlief doch gut, ich hatte noch nicht mal den Eindruck, dass die Pflegemutter irgendwie irritiert war, als sie mich zum ersten Mal sah. Und bestimmt nicht die Kinder, sie reagierten wie alle Kinder - unvoreingenommen und nahmen mich so, wie ich war. Was hatte ich also übersehen?
Im Zusammenhang mit dieser Mail erzählte mir meine Kollegin, dass ca. 40% der Mitarbeiter des Trägers mich eigentlich nicht wollten, aufgrund des Kopftuchs. Davon wusste ich bis zu diesem Zeitpunkt nichts. Ich ging zurück in mein gerade zugeteiltes Büro. Auf wackeligen Beinen. Was passiert jetzt? Wird die Geschäftsführung dem nachgeben? Werde ich jetzt gekündigt? Schließlich ist es die erste Pflegemutter, der ich zugeteilt wurde. Eine Sache fiel mir noch ein, ich drehte mich um und lief zurück in das Büro meiner Kollegin: "Denkst du, die Mitarbeiter hätten meine Einstellung auch diskutiert, wenn ich schwarz wäre?" Die Kollegin dachte einen Moment nach. "Ich glaube nicht. Das ist was anderes."
Weitermachen oder aufhören?
Der strukturelle Ablauf als Pflegefamilienberaterin "rettete" mich zeitweise. In Absprache mit der Kollegin, würde ich das Gespräch mit der Geschäftsführung suchen um auszuloten, wie wir damit umgehen. Wenn ich in dieser Zeit nach der Arbeit nach Haus kam, nahm ich diese vermeintlichen Konflikte mit. Ich sprach viel mit meinen Freundinnen, die ebenso betroffen waren. Allesamt auch Kopftuchträgerinnen kannten sie solche Erlebnisse. Es ist fast so, als erleben sie es mit dir. Es schenkt Trost, aber auch Wut und Traurigkeit. In dieser Zeit konnte ich jede Frau mit Kopftuch verstehen, die sich dafür entscheidet, nicht weiter zu arbeiten. An diesem Punkt weiterzumachen, ist nicht einfach.
Was passierte mit der Pflegemutter?
Im Gespräch mit der Geschäftsleitung erhielt ich die größte Erleichterung: "Ich habe dich eingestellt. Deshalb stehe ich zu 100% hinter dir. Wenn die Pflegemutter einen Wechsel will, soll sie sich einen anderen Träger suchen. Das machen wir nicht mit. Sie bekommt dich oder keine aus unserer Organisation."
Ich war sehr erleichtert. Eines musste ich jedoch noch loswerden, dass mir in den letzten Wochen klar wurde. Nach Einstellung sind alle Mitarbeiter mit der Geschäftsleitung per du. Das machte es einfacher, das Folgende anzusprechen:
"Ich möchte dir noch sagen, dass du im Vorstellungsgespräch nicht einfach fragen kannst, warum ich meine Religion nach außen trage." Sie schaute mich verblüfft und dann interessiert an. "Ja, das habe ich im Nachgang auch gemerkt. Aber, sag mal, möchtest du grundsätzlich nicht darüber sprechen? Es würde mich wirklich interessieren, du bist konvertiert, oder?" Und wieder. Ihre Neugier packte sie. Ich erklärte ihr, dass ich ihr das sehr gerne erzähle. Aber es ginge eben nicht, dass sie im Vorstellungsgespräch die Frage so stellt. "Weißt du, wenn du mich gefragt hättest, wie ich mit Pflegeeltern umgehe, die mit meinem Kopftuch nicht zurecht kommen - das ist angemessen. Das ist fachlich und relevant. Aber nicht so allgemein. Das ist diskriminierend. Vor allem inmitten eines Vorstellungsgesprächs."
Meine Leitung sah es ein und dankte mir für den Hinweis. Gleichzeitig wurde mir in diesem Moment klar, dass es die Geschäftsführung schlichtweg überrumpelte, eine Bewerberin zu haben, die Kopftuch trägt. Sie war eine fähige und kompetente Kollegin, die jeden Bewerber mit der Brille ihrer Klienten sieht. Mir wurde bewusst, dass es wohl ein allgemeines Defizit geht: Wie gehe ich kultursensibel - gegenüber dem Klientel und gegenüber der Bewerber - mit solchen Themen um? Und dieses Nachdenken darüber, was meiner Geschäftsleitung fehlte, heilte meine Wunden, die im Rahmen dieses ohnmächtigen Gefühls während des Vorstelllungsgesprächs passiert sind.
Mit der Pflegemutter hatte ich in der darauffolgenden Zeit einige Telefonate, in denen sie mir versuchte ihren Standpunkt klar zu machen. Deutlich wurde dabei, dass ihre Verletzung grundsätzlicher ist, als es auf den ersten Blick erkennbar wäre: Sie verlierte schließlich ihre einzige Konstante im Hilfesystem: die ehemalige Pflegefamilienberaterin, deren Platz ich nun einnahm. Ich bot ihr wiederkehrend an, dass wir uns gerne persönlich treffen könnten und ich ihr alle Fragen und/oder Sorgen mitteile, die sie bezüglich des Kopftuchs/Islams habe. Sie ging nicht darauf ein.
Ca. drei Monate später rief mich die älteste Pflegetochter an. Sie wolle ausziehen, sie fühle sich zu Hause nicht mehr wohl. Ich fuhr sofort hin und war den ganzen Tag damit beschäftigt, zwischen ihr und den Pflegeeltern zu vermitteln. Zuvor gab es die Problematik noch nie. Sie steckte jedoch mitten in der Pubertät und bei Pflegekindern ist dies eine hochsensible Zeit, gerade wenn die Herkunftseltern nicht bekannt oder kein Kontakt besteht. Die Frage wer man ist und/oder wo man hin gehört sind in dieser Zeit sehr zentral und bringen nicht wenige Pflegekinder dazu, zeitweise oder für immer von den Pflegeeltern weg zu ziehen.
Mitten in diesen Vermittlungen - meine Qualifikation als Mediatorin half mir an diesem Tag enorm! - stand ich mit der Pflegemutter in der Küche, sie schaute mich an und sagte: "Frau Roth, ich bin froh, dass Sie heute hier sind. Sie machen das wirklich gut."
Da war er, dieser Moment. Sie sah mich, erkannte meine Fähigkeiten, sah mich als Mensch, als Fachkraft und alles andere war nicht mehr wichtig.
Alle Personen wurden anonymisiert.