Die andere Seite des Marshmallow

"Wer im Kindesalter widerstehen kann, wird als Erwachsener erfolgreich - stimmt das?"

 

Spätestens seit der Werbung um das bekannte Schoko-Ei ist vielen der "Marshmallow Test" ein Begriff. Seinen Ursprung hat es in der USA, "als Untersuchungsparadigma exekutiver Kontrolle" (Keller 2017).

 

Zusammengefasst: jenes 6jährige Kind, dass warten kann und daraufhin noch mehr Süßes bekommt, als das, was vor der Nase präsentiert wird, wird laut einer weiterhin bestätigten Längsschnittstudie im erwachsenen Alter erfolgreich sein. Hirnforscher - und auch mein Vater (der sich viel mit solchen Themen beschäftigte), als ich soweit war, solche psychologischen Tests zu verstehen - begründen es mit der funktionierenden Kontrolle des limbischen Systems, dass Triebverhalten und Emotionen steuert. Und wenn ich dann mal in der Küche nach Anrichten des Abendessens ein Stück frisch gebratene Garnele auf dem Weg zum Esstisch entwendete, hieß es spitzfindig: "Na?! Hast du dein limbisches System nicht unter Kontrolle?!"

 

Durch meine momentane Literaturrecherche für meine immer konkreter werdende Dissertation bin ich durch meine Doktormutter auf einen eindrücklichen Fachartikel gestoßen, der in sehr vielen Aspekten mein bisheriges Denken, geprägt durch die ein oder andere bekannte psychologische Studie, in Frage stellt. Es gab viele anschließende Untersuchungen und Wiederholungen des Marshmallow Tests, der ihn bestätigte oder noch mehr konkretisierte. Je mehr Faktoren wie z.B. Bildungsstand der Herkunftsfamilie hinzugerechnet wurden, desto spezifischer und kritischer wurden die Ergebnisse. Über den Fachbereich hinaus (wie ja auch die Verwendung des Tests in der Werbung bestätigt) blieb jedoch hängen: 70% der Kinder hielten die Wartezeit nicht aus, und aßen den präsentierten Marshmallow vor ihrer Nase auf, bevor die Zeit um war, und sich die Anzahl der Marshmallows als Belohnung ihrer Wartezeit verdoppelt hätte. Die restlichen Teilnehmenden, die warten konnten, würden im späteren Leben erfolgreich sein. Für diejenigen, die widerstehen konnten, würde die Wahrscheinlichkeit geringer ausfallen. 

Da lese ich nun von einer Studie, die die Untersuchungsgruppe- westliche Mittelschichtkinder - austauschte und völlig andere Ergebnisse erzielte.

 

 



 

"Ich habe den Marshmallow Test noch nie rassistisch betrachtet."

 

In dieser Untersuchung von Hazel Markus & Shinobu Kitayama haben 70% der Probanden - Nso Kinder aus Kamerun warten können. 70%. Also umgekehrt: 70% der Kinder konnten warten, sind sogar vor den Süßigkeiten eingeschlafen, bis sich die Menge nach der Wartezeit verdoppelte. Die Analyse ist weitreichend. In meinen Augen - vor dem Hintergrund anderer vergleichbarer Studien, die in dem Artikel erwähnt werden - so bedeutend, dass es grundsätzliche Reichweiten von wissenschaftlichen Studien, deren Probanden in westlichen Ländern beheimatet sind, in Frage stellt. 

Als ich das las, dauerte es nicht lange, bis ich meinen Vater anrief und ihm davon erzählte. Innerlich ziemlich aufgewühlt, als mir klar wurde, wie oft ich doch in meinem Leben an diesen Marshmallow Test dachte, wenn ich mal wieder nicht gesetzte Ziele umsetzen konnte. Als ich mein Abitur in der ersten und zweiten Runde nicht schaffte. Oder wenn ich mal wieder versuchte, eine Ernährungsumstellung hinzubekommen und ich wieder in alte Muster zurück fiel. Mein Papa war so verblüfft wie ich und sinnierte ziemlich schnell, dass er diese Tests noch nie aus einem rassistischen Blickwinkel betrachtet hatte. Er äußerte es härter, als ich es verstand. Aber es war schon etwas Wahres dran. Schließlich werden solche Studien- gerade in der Psychologie & Pädagogik - als universalistisch betrachtet. Das eurozentrierte Denken, obwohl diese Bevölkerungsgruppe nur 5% der Weltbevölkerung ausmacht (!) (Keller 2017), ist dabei unübersehbar.

 

"Kinder in westlichen Ländern sind früher in der Lage, Empathie zu entwickeln, weil das westliche Erziehungsmodell mehr ihren Bedürfnissen entspricht. - Wirklich?!"

 

So erläutert Keller an anderer Stelle zwei aufeinander bauende Studien, die die Empathieentwicklung beleuchten. Auch das war mir schon bekannt. Durch die europäisch/westliche Erziehungsprägung würde vor allem vom Elternhaus, mit Sicherheit aber von der Gesellschaft (Kita, Schule etc.) eine "psychologische Autonomie" im Vordergrund der Erziehung stehen. Aussagen wie "sie soll auch mal alleine spielen", "na, in diesem Alter sollten sie aber schon in ihrem eigenen Bett schlafen" untermalen dieses Muster sehr gut. 

So zeigen Kinder ungefähr in einem Alter von anderthalb Jahren, dass sie in der Lage sind, sich selbst zu erkennen. Meine Hebamme meinte, das könne man gut testen, wenn frau dem Kind ein bisschen Creme auf die Nase macht und es sich dann im Spiegel betrachtet. Wenn es sich die Creme wegwischt, kann geschlussfolgert werden, dass das Kind weiß, wie es eigentlich aussieht, es sich also selbst erkennt und deshalb die Creme entfernt. Vergleichende Studien mit Probanden nichtwestlicher Mittelschichtkinder korrigieren dabei das Alter auf ca. zwei Jahre, also in der Entwicklungstendenz ist das Selbst erkennen später angesiedelt. Dementsprechend nahm man nun darauf aufbauend an: Erst wenn das Kind in der Lage ist, sich selbst zu erkennen, kann es nach ca. einem weiteren halben Jahr, also mit ca. zwei Jahren deutliche Empathie zeigen. Übertragen auf nichtwestliche Mittelschichtkinder, bestand die These, dass sie demnach auch später erst Empathie zeigen könnten. Dem war aber nicht so, wie Keller anhand einer vergleichenden Studie herausstellt. Hier waren es Probanden aus Delhi, die zeigten, dass auch sie im Alter von zwei Jahren nicht signifikant weniger Empathie zeigten. Der Zusammenhang von Selbsterkenntnis und Empathie war damit widerlegt. 

 

95% der Weltbevölkerung ist dramatisch unterrepräsentiert!

 

All diese vergleichende Bezüge erschüttern mich. Gerade als Wissenschaftlerin, die ihren eigenen Studierenden zeigen möchte, wie Wissenschaft und der Kerngedanke dahinter, unsere Gesellschaft voranbringt. Das denke ich immer noch. Aber die kulturspezifische Dimension ist dabei erschreckend unterrepräsentiert und benötigt viel mehr Fokus, um nicht nur vorhandene Studien kritischer zu analysieren, sondern dem "Rest", nein der Mehrheit der Welt mehr Raum zu geben.

 

 


Zum Nachlesen des erwähnten Fachartikels:

 

Keller, Heidi, 2017: Entwicklung als kulturspezifische Lösung universeller Entwicklungsaufgaben. In: Rauh, Andreas (Hg.) Fremdheit und Interkulturalität. Aspekte kultureller Pluralität. Bielefeld: transcript.